Lieber Schachfreund Repp,
Ihren Beitrag habe ich mit großem Interesse gelesen und begrüße außerordentlich, wie sachlich und differenziert Sie ihn verfasst haben. Um das vielleicht Wichtigste vorweg zu klären: es geht in der Tat um die Feinwertung bzw. das Tiebreak. Das Rutar-Punktesystem (5,3,2,1,0), auf das ich mich beziehe, möchte sein Erfinder zwar anstelle des geltenden Punktesystems (1,1/2, 0) einführen, doch mein Vorschlag für das Fernschach zielt zunächst nur auf die Feinwertung bzw. das Tie-break nach Gleichstand bei Sonneborn-Berger ab. Wenn ich zur Erprobung des Rutar-Punktesystems (mit geringen Modifikationen) empfehle, in Testturnieren oder -matches darüber hinauszugehen und die Rangfolge so zu ermitteln, als ob von vornherein nur das Rutar-Punktesystem gilt, dann nur, um die möglichen Auswirkungen dieses Systems quasi im Extremfall zu testen. Beschränkt auf die Feinwertung, würde das System vermutlich gedämpftere Auswirkungen haben. Aber erstmal wollen wir ja wissen, wie es sich im Härtetest macht.
Ich gehe mal der Reihe nach Ihre Punkte durch:
1. Grundregeln des Schachspiels sollten nicht außer Kraft gesetzt werden. Ich spiele auch noch aktiv Nahschach und es wäre für mich nicht hinnehmbar, dass bereits meine Eröffnungswahl grundsätzlich unterschiedlich sein müsste.
Hier stimme ich Ihnen grundsätzlich zu. Da ich ebenfalls noch aktiv Nahschach spiele, kann ich Ihnen allerdings berichten, dass ich dort seit jeher - mitunter zur Überraschung meiner Gegner - teilweise ein anderes Eröffnungsrepertoire pflege als im Fernschach. Es gibt zwar Überschneidungen, aber viele komplizierte Varianten, die man im Fernschach gründlich vorbereiten und während der Partie nahezu ausanalysieren kann, sind mir fürs Nahschach zu riskant und zeitraubend. - Ich erwarte nicht, dass sich mein Fernschach-Eröffnungsrepertoire - übrigens ein durchaus vielseitiges - bei einer Wertung nach dem Rutar-Punktesystem grundsätzlich ändert.
2. „Testpartien/-Turniere“ halte ich für wenig geeignet. Nach einer Anpassungszeit von wenigen Jahren würde ein wesentlicher Teil der gängigen Eröffnungen aus der FS-Praxis verschwinden; begünstigt durch „Dienstleistungen“ wie Eröffnungsbücher, Datenbanken und Anpassung der Engines. Mittel- und langfristig wäre das FS damit nach meiner Auffassung in der Vielfalt ärmer als zuvor und stünde vor dem gleichen Problem.
Sie konzentrieren sich sehr auf den Aspekt Eröffnung. Okay. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass im leistungsorientierten Fernschach, also dort wo es um Normen, Titel und Preise geht, viele Eröffnungen infolge der Computerdominanz nahezu verschwunden sind, weil sich entweder Weiß nichts mehr von ihnen verspricht oder sie Schwarz zu riskant sind? - Ich erwarte eher das Gegenteil von einem komplexeren und weniger comouter-affinen Punktesystem - nicht zuletzt, weil es schwerer sein wird, die langfristigen Auswirkungen auf die beiderseitigen Endspielchancen einzuschätzen. Also mehr Spiel und Kreativität statt Routine. Wenn Tests das bestätigen können, dann liegt es an uns, daraus etwas zu machen und auch in Zukunft Anpassungen unserer Wertungen und Regeln nicht aus dem Blick zu verlieren.
3. Deshalb reizen mich im heutigen FS spannende Abläufe (auch wenn sie der Mensch nicht immer versteht - aus denen ich aber persönlich lernen kann) mehr, als künftig eine klarere Tabelle zum Preis weitgehend sicherheitsbetonter Partien.
Es bleibt spannend oder wird sogar spannender denn je. "Sicherheitsbetontes Schach" ist eher das, was im Moment mit dem Sicherheitsnetz Computer praktiziert wird. Ich habe hunderte Fernpartien auf 2400er-2700er Niveau gespielt mit einem sehr breiten Eröffnungsrepertoire und auch meine Nahschachpraxis auf 2100er-Niveau, u.a. gegen Titelträger, hat mich immer wieder darin bestärkt, dass man auch dann aktiv und mit kalkuliertem Risiko spielen muss, wenn man die Remisbreite wahren will. Wenn der Gegner den offenen Kampf sucht, kann man sich im Schach nicht hinter einer "sicheren" Stellung verstecken. Umgekehrt: Wenn der Gegner den Kampf um jeden Preis vermeiden will, gibt er sich gerade mit dieser Festlegung eine große Blöße. Das scheint mir treffend mit der Spruchweisheit "Angriff ist die beste Verteidigung", man könnte auch von Gegenangriff sprechen, ausgedrückt zu sein. Am Material zu klammern, funktioniert allenfalls, wenn man Dominanz ausüben kann. Doch woher kommt das Material dann? Da muss der Gegner irgendwo schlecht gespielt haben. Wenn ich Material um den Preis von Initiative erhalte, muss ich doppelt aufpassen, nicht in einen Angriffs trudel zu geraten. Oft sind Rückopfer angeraten. - Diese Schachgesetze werden m.E. durch unterschiedliche Remiswertungen dann nicht aufgehoben, wenn diese Wertungen intelligent eingesetzt werden. - Damit sind wir wieder beim Thema Testen ...
4. Das Patt – auch wenn es als finale Stellung selten auf dem Brett ist – hat im Endspiel eine überragende Bedeutung. Ich möchte, da ich das FS auch als Training für das Nahschach ansehe, nicht mit völlig unterschiedlichen Endspielbewertungen spielen/trainieren.
Was trainieren Sie in Ihrem Fernschach fürs Nahschach außer Eröffnungen? Mustererkennung?! Spielverständnis?! Endspieltypen?!Okay. Wenn Sie sich im Nahschach ins Patt retten, dann ist das im Fernschach nach dem Rutar-Punktesystem nicht anders. Sie wollen ja schließlich nicht verlieren. Oder umgekehrt, wenn Sie nicht mehr erreichen können, als den Gegner pattzusetzen (z.B. häufig K+B gegen K), dann werden Sie das in beiden Fällen tun, egal wie die Punkte verteilt werden. Sie haben ja keinen größeren Vorteil erzielen können. Wobei das Rutar-System allerdings (in der Regel) anerkennt, dass Sie aus einer besserstehenden Position heraus (materialisiert in einem Materialvorteil) das Patt erzwungen haben.
5. „Materialvorteil bei einem Remisschluss“: Hierzu gibt es ja bereits unterschiedliche Meinungen (Materialvorteil bzw. Opfer höher bewerten). Beide Überlegungen kann ich nach-vollziehen, aber keine gefällt mir. Ab einem 7Steiner kann das Remis über den Server reklamiert werden. Es gibt zahlreiche Endspiele, in welcher der Spieler der „materialstärkeren Seite“ den Remisschluss aus rein menschlicher Bewertung mit Ach und Krach erreicht, er einer Niederlage also näher ist als dem Sieg. Ich denke z.B. (alles plus Könige) an Bauernendspiele mit Doppel- oder Trippelbauern oder T vs. 3 Bauern oder D vs. 3 oder 4 vorgerückte Bauern etc, etc. Weiterhin gibt es viele Endspiele (z.B. T + 1 B vs. 3 Bauern, hiervon einer auf der 6. oder 7. Reihe), in denen absehbar ist, dass der T in einigen Zügen gegen den vorgerückten B getauscht werden muss. Danach also ein Bauernendspiel 1 : 2. Gilt dann der „Materialvorteil“ bei der Remisreklamation (3:1) oder der für jeden Schachspieler absehbare Materialvorteil der anderen Seite nach dem Tausch T vs. 1 B (also 1:3)?
Ich habe zwei wichtige Textstellen hervorgehoben.
Natürlich würden Remisreklamationen "ab 7-Steiner" nach dem Rutar-Punktesystem wenig Sinn machen (sollten also ausgesetzt werden), da vermutlich immer einer der beiden Spieler benachteiligt wäre oder dies zumindest so empfinden würde. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass es für Ihr Nahschach besser wäre, sie müssten solche Endspiele ohne Datenbanken oder gegen Datenbanken trainieren?
Material wird erst am Ende der Partie gezählt, wenn diese unentschieden ausgegangen ist. Man kann bestimmte Fälle von der Materialwertung ausnehmen, z.B. ewiges Schach oder auch das Patt. Das sind Sonderfälle, die ich hier jetzt nicht diskutiere.
Man kann auch Regeln dafür aufstellen, wie Remisangebote bzw. -vereinbarungen zu bewerten sind, in denen die Stellung nicht ausgespielt wurde, aber im Hinblick auf das voraussichtliche Ergebnis ein Deal stattfindet, z.B. bietet jemand remis, um einen möglichen Verlust zu vermeiden, obwohl er zum Zeitpunkt des Angebots einen Materialvorteil hat.
U.a. diesen Punkt diskutiere ich z. Zt. mit Venceslav Rutar. Diese Situation kommt natürlich eher im Nah- als im Fernschach vor (insbesondere bei Zeitnot), aber es muss ja alles geregelt sein. Ich bin der Meinung, dass solche Angebote automatisch als 2:2 gewertet werden sollten. Umgekehrt, wenn derjenige mit Materialnachteil remis anbietet, erkennt er damit an, dass das Unentschieden mit 3:1 für den Gegner gewertet werden soll.
Zu Ihrem Punkt 6 habe ich oben schon das Wesentliche gesagt.
Bleiben Sie dem Fernschach erhalten!
Beste Grüße
Arno Nickel